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“NICHTS IST ÜBER KUNST ZU SAGEN…”

„…, außer dass es sich dabei um ein Wort handelt. Von genau dort aus bis hierher ist alle Kunst literarisch geworden. Wir leben noch nicht in einer Welt, in der alles aus sich heraus verständlich ist. Es ist sehr interessant zu bemerken, dass viele Leute, die zum Beispiel das Reden aus der Malerei herausnehmen wollen, nichts anderes tun, als darüber zu reden. Dies ist jedoch kein Widerspruch. Die Kunst in der Malerei ist der für immer stumme Teil, über den man endlos reden kann.
Willem De Kooning


Eigentlich liegt die Schönheit im Auge des Betrachters. Mit der Wahrheit verhält es sich ähnlich: Das, was wir als wahr oder typisch kennen und erkennen, ist abhängig von dem, was wir gelernt haben, von den Symbolen, die wir deuten. Unsere Wahrheitsempfindung hängt mit unseren Erfahrungen zusammen und ist damit Teil unserer Identität. Wenn unsere Wahrnehmung zerrüttet und in Frage gestellt wird, zweifeln wir auch an der Wahrheit. Oft stellen wir uns die Fragen: Ist das, was ich sehe, wahr? Ist das, was ich abbilde / im Abbild zu erkennen glaube, wirklich eine Darstellung der Wahrheit? Wie kann ich mein Verständnis von Wahrheit anderen verständlich machen? Was stellen wir eigentlich dar? Wahrheit ist facettenreich. Wahrheit ist nicht allgemeingültig. Die Kunstgeschichte hat viele Möglichkeiten der Darstellung von Wahrheiten und Ideen von Wahrheit, von Identitäten und vermeintlichen Identitäten zur Diskussion gestellt und dennoch hat sich das Thema noch nicht erschöpft.


Peter Baldinger setzt sich in seinem Werk immer wieder mit Identität und Wahrheit(sfindung), die sehr eng verbunden sind, sowie (deren) Wahrnehmung auseinander. Aus dieser Auseinandersetzung entstanden u.a. zwei große Werkgruppen: “Unidentified” und “Diffusion”. Die Darstellung von Hinterköpfen in der Serie „Unidentified“ ist die scheinbare Anonymisierung eines Menschen. In Wirklichkeit aber wird dieser immer klar personalisiert und typische Merkmale sind für diejenigen deutlich erkennbar, die diese Person kennen. Die Abwendung vom Betrachter erwirkt eine Distanzierung. Bei den “Diffusions” ist diese Distanzierung ebenfalls spürbar, jedoch ist es keine Abkehr vom Betrachter, sondern ein vermeintlicher Sichtschutz durch den Blick durch das Riffelglas, der Neugier und Voyeurismus auf den Plan bringt.


Beide Serien scheinen unterschiedliche Methoden der Betrachtung zu repräsentieren, haben jedoch eine verwandte Aussage inne: die Neugier des Menschen und sein Drang zu identifizieren. Die Nummerierung der einzelnen Werke unterstreicht die Anonymisierung. Wie in den Verwaltungs- und Sozialsystemen unserer Staaten sind die Menschen lediglich Nummern, die ihnen in der Reihenfolge der Entstehung zugewiesen werden. Die Wahrnehmung von bestimmten Personen, Tieren oder Ereignissen wird durch die Betitelungen einiger Werke der “Diffusion”-Serie suggeriert. Gemälde wie “Ich war Goya”, hinterfragen nicht nur die Wahrnehmung unserer Umgebung, sondern auch unsere Wahrnehmung von Kunst und die Beeinflussung ihrer Beurteilung durch das, was wir als Stil oder „gute Kunst“ zu erkennen gelernt haben. Im Sinne von Willem De Kooning¹; ist Peter Baldinger jedoch nicht an Stil interessiert.


Der niederländisch-amerikanische Künstler und seine Einstellung zu und Umsetzung von Kunst faszinieren Baldinger. Er hat sich intensiv mit seinem Werk auseinandergesetzt und zieht gerade in seiner jüngsten Serie Parallelen zu dessen Schaffen. Den Weg, der De Kooning von der Darstellung von “Seelenlandschaften” zu aperspektivischen Bildräumen, die sich lediglich auf die Sichtbarmachung der malerischen Aktion konzentrieren, führte, hat Baldinger noch nicht vollends beschritten. Die Kontroversen und Verwirrungen, die De Koonings “Women”-Serie (1950-53) auslöste, zeigen jedoch, dass auch dieser mitunter zu Gesehenem und Erlebtem zurückgekehrt war, um sich nicht auf eine bestimmte künstlerische Haltung festlegen zu lassen. Je freier De Kooning über seine farbigen und formellen Mittel verfügte, desto mehr trat die “Seelenlandschaft” in den Hintergrund.


“Diffusion (v. lat.: diffundere = ausgießen, verstreuen, ausbreiten) (…) ist die gleich-mäßige Verteilung von Molekülen in dem Raum, der ihnen zur Verfügung steht. (…) Unter Diffusion im engeren Sinne versteht man den Ausgleich von Konzentrationsunter-schieden bis hin zum selbständigen Durchmischen, das durch diese Bewegung entsteht.”² So wird in Baldingers “Diffusions” die Molekularstruktur seiner Malerei und somit die Beschäftigung mit Abstraktion sichtbar. Die Zusammensetzung unregelmäßiger Farbfelder und -striche erinnert an Camouflage, zerstört das Gesamtbild und wirkt so einem Harmoniedenken entgegen, das die Farbflecken zu einem benennbaren Ganzen vereinigen will. Doch das Bild ist mehr als die Summer seiner Teile, denn die Abstraktion macht die künstlerische Intervention zum Thema: Eine Metamorphose der sichtbaren Realität und der dem Künstler eigenen Innenwelt wird sichtbar.


Im Gegensatz zum schöpferischen Geist De Koonings, steht Francis Bacons agressiv-zerstörerische Bildsprache. Während Paul Cézanne seine Bilder wie eine Partitur konstruierte, wodurch sie ruhig und konzentriert wirken, sind Bacons Arbeiten – wie jene Baldingers – eher dynamisch zerstreuend. Francis Bacon stellt dar, was er als Essentiell erachtet, und verzichtet bewusst auf kommentierte Aussagen und eine vorsätzlich tiefere Bedeutung, Anekdotisches lehnt er kategorisch ab. Bacon polemisierte gegen die Abstraktion und verwehrte in seiner Einzelgängerstellung jeglichen Einfluss zeitgenössischer Strömungen. Seine Werke sind keine Zwischenergebnisse einer Theorieentwicklung, sondern eine – mitunter erschreckende – Diagnose seiner persönlichen Wahrnehmung der ihn umgebenden, für den Menschen gefährlichen Realität. Baldinger hat sich nicht nur diese Auseinandersetzung, sondern auch Bacons Einstellung zur Serie zum Vorbild genommen: “Manchmal sind sie (die Bilder) in den Serien besser als einzeln, weil ich unglücklicherweise nie imstande gewesen bin, dieses eine Bild zu machen, das die Summe der anderen darstellt.”³


¹) Er hatte Stil als Betrug bezeichnet.
²) www.wikipedia.de (05.02.06)
³) Seine Serien der Darstellungen von Papst Innozenz X. nach Velazquez (1949-1953) sowie – auf
einerpersönlicheren Ebene – die Studien für ein Portrait von Isabel Rawsthorne (1965) sind dafür
exemplarisch.

WEEPING WOMEN – INTERVIEW

Peter Baldinger im Interview zu seinem Werk, seinem Zugang und der Klammer seiner Serien. Ein wenig lässt er in die Zukunft blicken.

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Toni Faber und Peter Baldinger über Kunst und Tod. Viele Anstrengungen der Menschen lassen sich als Versuche deuten, den Tod zu überwinden und etwas zu...