MEDIA

DIE AHNUNG EINER GEWISSHEIT

Es gab eine Zeit, da war der Mensch, die figurative Malerei insgesamt Nebenthema in der Kunst. Das hat für Peter Baldinger nie gegolten. Er malt weil er malen muss: “Solange ich denken kann, habe ich Menschen dargestellt”.

Die narrativen Bilder, Freunde, Familienmitglieder, Eindrücke von Reisen darstellend, stehen am Anfang seines künstlerischen Tuns. Es folgt die Phase des klassischen Porträtbildes, ohne Hintergrund, ohne Geschichte, einfach die Köpfe von Menschen. In der Weiterentwicklung schließlich Köpfe von hinten. Warum? “Weil wir im Laufe eines Tages mehr Menschen von hinten sehen als von vorne” ist die Erfahrung, die Peter Baldinger als Mensch unter Menschen macht und weil ihn fasziniert, dass wir uns bekannte Personen auch von rückwärts erkennen, ohne zusätzlich nachdenken zu müssen. Wir haben ihre Silhouette tief in uns gespeichert und können ihr individuelles Erscheinungsbild jederzeit in uns abrufen und aktivieren. Selbst bei anonymen, uns unbekannten Menschen, können wir von rückwärts sehr viel über sie sagen. Diese Identifikationszuweisung ist eine spannende Erfahrung und gibt zu denken.

Baldinger geht mit seinen hintergründigen Kopfansichten in Serie. In der heimischen, wie internationalen Kunstszene werden diese Arbeiten beachtet und vielfach rezipiert. Er selbst nennt als Anstoß für seine Hinterkopf Serie die Erfahrung in seinem ursprünglichen Brotberuf als Fotojournalist und Lokalreporter, unter anderem auch für die Gerichtsseite, wo Köpfe, isoliert, für die sonst nicht abbildbaren Ereignisse und Schicksale stehen. Oberflächlich gesehen macht Baldinger den Typus Polizeibild salonfähig, ein rasches Vorurteil. Vielmehr deutet Baldinger mit diesen Chipcards an, dass jeder Einzelne zählt und sich wesentlich vom anderen unterscheidet. Jeder einzelne von ihm gemalte Kopf bestätigt ein Original. Eine politische oder gesellschaftskritische Botschaft will Baldinger damit nicht transportieren, er konstatiert nur und sinniert, zum Beispiel über Vorurteile. Wir nähern uns einem Menschen und machen uns zunächst ein Vor-Urteil von ihm, eine notwendige Überlebensstrategie. Wenn wir über das bloße Sehen hinausgehen, werden wir unser Vor-Urteil redigieren und eine Be-Urteilung treffen, die darüber hinausgeht.

Das Thema, das in Baldinger weiter brodelt, ist die Grauzone zwischen Anonymität und Identität. Unsere Intuition und unser Sinnesorgan Auge spielen zusammen und formen uns das Bild von einem Menschen, wir erkennen einen Freund oder einen Unbekannten. Da überrascht Baldinger eine weitere Erfahrung: Selbst in den unscharfen, verschwommenen, aufgelösten Silhouetten durch die Riffelglasscheibe einer Glastür, können wir bekannte von unbekannten Menschen unterscheiden, selbst wenn sich ihre Körper nach außen auflösen, ihre Grenzen zerfließen. Sein weiteres malerisches Werk ist von dieser Beobachtung geprägt, Peter Baldinger entgrenzt. Weitere Erkenntnisse aus seiner Beobachtung folgen: Jede minimale Veränderung hinter der Riffelglasscheibe lässt ein neues Bild entstehen. Baldinger geht wieder in Serie. Auch wenn er jetzt nichts anderes als die Wirklichkeit, die er durch die geriffelte Glasscheibe sieht, auf die Leinwand überträgt, erscheint das Bild für den Betrachter unwirklich, abstrakt. Das Medium Riffelglasscheibe wird ihm zur Metapher für den Filter, den wir täglich anwenden. Wir sortieren und trennen die so genannte Wirklichkeit durch unser Filter der ganz persönlichen Wahrnehmung.

Für das neue Polytechnikum in Mattighofen hat Peter Baldinger einen Zyklus von vier Wandgemälden 293 cm x 390 cm geschaffen. Ihre üppig-sinnliche Farbigkeit, ihre plastisch-räumliche Bewegtheit, ihre kraftvolle Gegenwärtigkeit ist die erste Stufe der Wahrnehmung, die uns, den Betrachter zunächst ganz in den Bann zieht. Je weiter wir uns aber von den Gemälden entfernen, desto näher kommen wir dem Thema. Es erschließt sich nicht auf den ersten Blick. Der von Peter Baldinger angewandte Wahrnehmungsfilter schiebt sich dazwischen. Baldinger verschiebt die Erkennungsgrenze der Wirklichkeit bis zu dem Punkt, an dem der Wiedererkennungseffekt bricht. Es scheint, als könnten wir die dahinter liegende Wirklichkeit erst in der Entfernung von ihr, in der Reflexion erkennen. Wir sind gezwungen, unser Vor-Urteil zu redigieren. Der Titel des Zyklus lautet “where we are”. Eine Annäherung an die vier Grundfreiheiten des Menschen: die Freiheit der Rede und der Religion, die Freiheit von Not und von Angst. Im Zentrum des Zyklus steht somit der Mensch und seine wesentlichen Befindlichkeiten. Wir sind wieder bei dem von Baldinger eingangs erwähnten Satz: “Ich stelle, solange ich denken kann, Menschen dar”. Daran schließt er an: “Kunst setzt immer einen konkreten Willen voraus”. Peter Baldinger besitzt diesen unbedingten Willen zur Kunst. Seine Konzept heißt: “Der Betrachter soll ein flaues Gefühl haben, da ist etwas, so, als würde ich in einem Boot stehen, Gegenstände auf dem Wasser beobachten und dabei leicht schwindlig werden.”

Rezeptionszeiten müssen angesichts der unterhaltenden Bilderflut verkürzt werden. Innehaltende Aufmerksamkeit wird als romantische Attitüde desavouiert. Peter Baldinger weiß darum. Er lebt in dieser Welt, er lässt sich von ihren Bildern verzaubern. Er spürt der Verführungskraft dieser Images nach, enttarnt mit seinen Werkzeugen ihre vordergründigen Absichten, ohne ihnen gleichzeitig ihre obsessive Macht zu nehmen. Das auf dem ersten Blick widersinnige Verfahren, stark aufgerasterte Zeitungsbilder nachzumalen, erweist sich bei längerer Betrachtung als eine sinnstiftende, produktive Geste: Der gemalte Rasterpunkt ist nicht mehr flache Fläche, sondern informationsträchtiger Mikrokosmos. Das Bild – dessen Vorbild aus wenigen Informationseinheiten bestand – wird damit zu einem Ort vielfältigster Überlagerungen, die von sich als Ergebnis einer ausgesprochen individuellen Handlung künden. Gleichgültig, ob die Porträtierten von hinten oder durch ein Riffelglas zu sehen sind, immer verweisen Peter Baldingers Bilder auf eines: Das oberflächlich Wahrgenommene – all das, was seine Subjektivität und Einmaligkeit verloren hat – kann nur durch die Arbeit der Hand, durch den Einsatz des Körpers ins Bewusstsein zurückgewonnen werden. Der moderne Blick allein widersetzt sich der Geschichte, er ist absichtslos. Erst im sinnlichen Tun entsteht Zielgerichtetheit und damit Ahnung von Gewissheit.

WEEPING WOMEN – INTERVIEW

Peter Baldinger im Interview zu seinem Werk, seinem Zugang und der Klammer seiner Serien. Ein wenig lässt er in die Zukunft blicken.

...

Der Dompfarrer, der Künstler und der Tod

Toni Faber und Peter Baldinger über Kunst und Tod. Viele Anstrengungen der Menschen lassen sich als Versuche deuten, den Tod zu überwinden und etwas zu...