“Mancher betrachtet Gemälde am liebsten mit verschlossenen Augen, damit die Fantasie nicht gestört werde.” Dieser Satz von August Wilhelm Schlegel, vor rund zweihundert Jahren formuliert, drückt die Erwartungen aus, denen Künstler seit der Romantik ausgesetzt sind: Sie sollen Bilder machen, die die Einbildungskraft anregen und stimulieren, die aber vor allem als Projektionsflächen fungieren und jedem einzelnen Betrachter, so unterschiedlich er auch sein mag, gleichermaßen als Bestätigung seiner eigenen Gedanken und Wünsche erscheinen. Und sie sollen sich davor hüten, zu sendungsbewusst und obsessiv zu sein. Während Schlegel noch darunter litt, dass viele Kunstwerke seiner Zeit diesem Ideal nicht entsprachen und den Rezipienten – seine Phantasie – zu stark vereinnahmten, lässt sich die Entwicklung der Moderne als ein Prozess beschreiben, der es immer weniger erforderlich machte, die Augen vor Gemälden zu verschließen. Vielmehr sind Kunstwerke zu einer Art von Joker geworden, die gerade kein definiertes Wesen haben, sondern sich je nach Wunsch und Situation neu verwandeln können.
Mittlerweile gibt es also viele Gemälde, die sich genau so darbieten, wie es die individuelle Einbildungskraft des jeweiligen Betrachters am liebsten hätte, ja die sich, einem Chamäleon gleich, immer wieder anders zeigen, da sie das aufzunehmen und zu spiegeln vermögen, was dem Einzelnen vorschwebt. Das mag wie ein wahr gewordenes Märchen anmuten, ist aber vor allem ein eindrucksvoller Beleg dafür, dass aus einer Idee Wirklichkeit werden kann. So war die Abstraktionsbewegung der Moderne vom Interesse getrieben, ein Bild solle die allgemeine Form vieler möglicher Bilder beinhalten und damit als Darstellung ganz unterschiedlicher Phänomene taugen. In anderen Strömungen, etwa dem Surrealismus, ging es dafür darum, mit Strategien der Verfremdung Sujets aus gewohnten Zusammenhängen zu lösen, um sie zu Palimpsesten mit mehreren Bedeutungsschichten und einer entsprechenden Vieldeutigkeit zu machen, aus denen sich nahezu alles herauslesen lässt.
Genauso sind die semantischen Hypertrophien, die sich aus Kombinationen von Symbolen ergaben, als Ergebnis des Wunsches zu begreifen, Werke so zu gestalten, dass möglichst jeder sich ‚irgendwie‘ darin wiederfindet. Minimalistische Reduktionen schließlich machten die Kunst frei disponibel, führten sie doch gerade zu einer Preisgabe von Inhalten. Aber auch die Arbeiten von Peter Baldinger hätten August Wilhelm Schlegel gewiss gut gefallen, und er bräuchte die Augen vor ihnen nicht zu verschließen. Im Gegenteil. Der Maler und Zeichner versteht es nämlich ebenfalls besonders gut, Bildern die Offenheit zu geben, die nötig ist, um die Phantasie zu beleben, aber nicht zu bedrängen.
Wie aber gelingt das bei ihm? Peter Baldingers Prinzip besteht darin, nie alles zu zeigen. Damit kann der Betrachter das Vorenthaltene nach eigenen Vorstellungen ergänzen, und erst im Zusammenspiel von äußerem und innerem Bild entsteht das vollständige Werk. So lässt Peter Baldinger auf vielen seiner Gemälde Gesichter oder andere Sujets verschwimmen oder zeigt sie so verzerrt, als würde man sie durch eigens geschliffene Gläser sehen. Man bekommt zwar eine Ahnung vom Gezeigten, hat aber auch viel Spielraum, um sich Details dazu zu denken oder eine ganze Geschichte zu imaginieren.
Auf anderen Werken, vor allem bei mehreren Zyklen von Zeichnungen, enthält Peter Baldinger dem Rezipienten insofern etwas vor, als er Figuren allein von hinten abbildet. Wie die Dargestellten wirklich aussehen, bleibt damit unentschieden. Ob sie lächeln oder ernst blicken, mürrisch oder sehr sympathisch erscheinen, gesund oder aber müde wirken – das alles entscheidet erst der Betrachter, der sich damit sowohl einen Traumpartner wie auch das Konterfei eines Menschen ausmalen kann, der ihn gerade beschäftigt oder der in der Vergangenheit wichtig für ihn war.
Peter Baldingers Bilder sind höflich. So desillusionieren sie nie, sondern erlauben es dem Betrachter, seine Vorstellungen ungebremst zu entfalten. Während es oft enttäuscht, wenn man einer Person, die man zuerst nur von hinten gesehen hat, plötzlich ins Gesicht blicken kann, ist ausgeschlossen, dass sich eine Figur Baldingers auf einmal umdreht – und nicht das erfüllt, was man sich eingebildet hatte. Und auch die Unschärfen lösen sich nicht auf. Da sie bei Peter Baldinger wie Schlieren wirken, versetzen sie die Bildoberfläche – ähnlich wie das bei Op-Art der Fall ist – vielmehr sogar in Bewegung: Das Abgebildete scheint leicht zu changieren. Das inspiriert die Einbildungskraft zusätzlich, doch wird der Betrachter so auch dazu gebracht, länger vor einem Bild zu verweilen. Vielleicht wird er es sogar ähnlich wie das Bild auf einem Monitor wahrnehmen, auf dem sich immer wieder anderes abspielt.
Damit liefert Peter Baldinger zugleich einen bemerkenswerten Kommentar zur selbst schon etwas altbackenen Frage, ob die Malerei antiquiert sei: Solange es ihr gelingt, den Blick genau so zu bannen wie ein bewegtes Bild in einem neuen Medium, hat sie nichts an Aktualität eingebüßt. Da sich die Werke Peter Baldingers aber erst im Kopf des Rezipienten vollenden, darf dieser nicht passiv sein. Wer sich nur gerne unterhalten lässt und über keine geübte und lebhafte Einbildungskraft verfügt, wird von einer solch unbestimmten, jokerartigen Kunst schnell überfordert oder gelangweilt sein.
Wer hingegen Freude daran hat, Angedeutetes weiterzuentwickeln und über Nur-halb-Gezeigtes zu spekulieren, wird in Peter Baldingers Kunst die vornehmste Form von Erotik erkennen: Sie lockt, lässt träumen – und führt ins Offene. Also: Wer seinen Haushalt innerer Bilder pflegen will, sollte die Werke Peter Baldingers nicht verpassen. Und August Wilhelm Schlegel sowie allen anderen Skeptikern ist zuzurufen: Augen auf!